Audiowalk

SPEKTAKEL zwischen KAFFEEKÜCHE und KLASSENKAMPF

INTRO

Seit mehr als 200 Jahren ist der Prater ein Ort der Unterhaltung, der Kunst und der öffentlichen Debatte. Der Audiowalk von Caroline Böttcher nimmt Sie mit auf einen Spaziergang über das Gelände und in seine Geschichte. Er erzählt vom großen Spektakel, Drahtseilakten in schwindligen Höhen über dem Biergarten und politischen Versammlungen von Arbeiter:innen.
Neben historischen Zitaten aus Tageszeitungen, von Clara Zetkin oder dem „Zirkel der schreibenden Arbeiter“ berichten Zeitzeug:innen vom Tanztee im Kreiskulturhaus, über die Inszenierungen der Volksbühne, aus der Galerie am Prater und von den Veränderungen im Kiez nach der Wende. Es entfaltet sich eine akustische Geschichte des Vergnügens in unterschiedlichen politischen Systemen.

In den O-Tönen der Reihenfolge nach: Annett Gröschner, Stephan Freiberg, Andreas Speichert, Hanno Hochmuth

Ansichtskarte des Berliner Praters, um 1900
© Museum Pankow Archiv

Ansichtskarte des Berliner Praters, um 1900 © Museum Pankow Archiv

Station 1: KAFFEEKÜCHE

Die Geschichte des Pratergartens begann 1831 mit einem Viktualienhandel und einer Schankwirtschaft. Von 1852 bis 1906 war hier Kalboʼs Sommergarten zu Hause. In der stetig wachsenden Stadt gab es viele dieser Biergärten und Ausflugslokale. Sie boten Abwechslung vom Arbeitsalltag und dem Leben in den engen Mietskasernen. Im Prater gab es neben dem Biergarten die sogenannte „Kaffeeküche“: Hier konnten Familien ihren eigenen Kaffee mit heißem Wasser aufbrühen. Außerdem wurde ein reichhaltiges Unterhaltungsprogramm angeboten, nicht zuletzt um die Kundschaft anzulocken. Varietéveranstaltungen wechselten sich mit Tanz, Boxkampf und vielem mehr ab. Besonders die Frauen schätzten es, sich an diesem Ort zu versammeln, konnten sie auf diese Weise doch ihren beengten Wohnverhältnissen ein wenig entkommen.

© Museum Pankow Archiv

© Museum Pankow Archiv

Station 2: STREIK

Der Prater war auch ein Ort der politischen Diskurse und Versammlungen. Hier diskutierten die Gäste beim Bier hitzig über die aktuellen politischen Ereignisse oder trafen sich, um über gemeinsame Strategien im Kampf um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen zu debattieren. So forderten die Berliner Konfektionsarbeiter:innen dazu auf, sich am 3. Februar 1896 in verschiedenen Lokalen zusammenzufinden, um den aktuellen politischen und gewerkschaftlichen Forderungen Ausdruck zu verleihen. Da es großen Zulauf zu dieser Veranstaltung gab, teilten sich die Teilnehmenden auf unterschiedliche Orte auf. Einer davon war der Prater.
In dieser Hörstation werden Textauszüge von Clara Zetkins Manifest „Gegen das Elend in der Konfektionsindustrie“ von 1901 verwendet. Auch fünf Jahre nach dem Treffen der Textilarbeiter:innen im Prater waren die Missstände in der Textilbranche und die daraus abgeleiteten Forderungen, die Clara Zetkin hier anspricht, immer noch aktuell.

Aufruf zu einer Versammlung der Konfektionsarbeiter im Prater 1986 aus Thilo Zantke, Der Berliner Prater. Streiflichter aus der Geschichte einer Freizeit- und Vergnügungsstätte
© Archiv KKH Prater

Aufruf zu einer Versammlung der Konfektionsarbeiter im Prater 1986 aus Thilo Zantke, Der Berliner Prater. Streiflichter aus der Geschichte einer Freizeit- und Vergnügungsstätte © Archiv KKH Prater

Station 3: DAS VERGNÜGEN VERSCHWINDET (KAMPF)

Der Betrieb im Prater ging nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten scheinbar ohne Einschränkungen weiter. Das Theater und das Kino liefen weiter, im Garten wurde Bier ausgeschenkt und auch die Boxkämpfe wurden weiter ausgetragen. Was sich grundlegend veränderte, waren die Arbeitsbedingungen für das Personal und die Inhalte des Programms. Es durften nur noch politisch und „rassisch“ erwünschte Künstler:innen auftreten und nur noch Stücke gespielt werden, die nicht von Juden oder Jüdinnen geschrieben oder komponiert worden waren.
Aus der Zeit des Nationalsozialismus gibt es in den Archiven wenig Dokumente zum Prater . In der Hörstation vermischen sich das Verschwinden des Vergnügens und der Ausbruch des 2. Weltkriegs in einer Klangkomposition.

Station 4: WIEDERAUFBAU

In einer Bombennacht brannten die Wirtschaftsgebäude und die Freilichtbühne des Praters ab. Die Gartenanlage wurde in ein Trümmerfeld verwandelt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs halfen die Bewohner:innen der Stadt in 59.000 Aufbaustunden, den Prater wieder herzurichten.

Arbeiten durch freiwillige Helfer:innen des Nationalen Aufbauwerks im Berliner Prater 1958
© Museum Pankow Archiv

Arbeiten durch freiwillige Helfer:innen des Nationalen Aufbauwerks im Berliner Prater 1958 © Museum Pankow Archiv

Station 5: KREISKULTURHAUS

1967 wurde der Prater zum Kulturzentrum, schließlich zum Kreiskulturhaus Prenzlauer Berg. Das Programm war vielfältig: Hier konnte man in einem Chor singen, zeichnen und kreativ schreiben lernen oder an Tanzveranstaltungen teilnehmen. Während die „Sonntagsmelodien“ eher älteres Publikum anzogen, standen Praterbälle für alle Generationen und Berufsstände offen. Es gab Treffen der Volkssolidarität, und die Modellbahnausstellung war ein Highlight für Groß und Klein.

In den O-Tönen der Reihenfolge nach: Hanno Hochmuth, Simone Hain, Annett Gröschner, Stephan Freiberg

Straßenfront vor dem Berliner Prater, 1977
© Museum Pankow Archiv

Straßenfront vor dem Berliner Prater, 1977 © Museum Pankow Archiv

Station 6: VON DER WENDE BIS HEUTE

Nach der Wende wurde der Prater zum Experimentierfeld für Künstler:innen – man traf sich zwischen den Häuserschluchten in entspannter Atmosphäre, es wurden Ideen ausgesponnen, und so manche experimentelle Kunstaktion fand hier statt. Die Volksbühne hatte ihren Ableger im Pratersaal – eines ihrer Highlights waren die „Prater-Spektakel“ im Pratergarten. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Kastanienallee stark verändert, der Prenzlauer Berg wurde zum größten Sanierungsgebiet Europas. Nach Abschluss einer umfassenden Sanierung zieht die kommunale Prater Galerie wieder ins Gebäude ein, und es wird wieder Theater gespielt.

In den O-Tönen der Reihenfolge nach: Stephan Freiberg, Annett Gröschner, Andreas Speichert, Aenne Quiñones, Annett Gröschner, Johanna Pohland, Annett Gröschner

Bastard Club
© Lucy Jones

Bastard Club © Lucy Jones

Station 7: GALERIE

1967 eröffnete der Künstler Skip Pahler, der auch Mitarbeiter des Kreiskulturhauses war, in einem Ladenlokal gegenüber vom Prater die „Galerie am Prater“. Für zwei Jahre bestimmte er deren Programm. 1973 wurde die Galerie am Prater auf Initiative des Künstlers Wolfgang Leber anlässlich der „Weltfestspiele der Jugend und Studenten“ unter kommunaler Trägerschaft eröffnet. Neben Kunstausstellungen fanden einmal im Jahr auch Grafikauktionen statt, die Originalkunstwerke zu erschwinglichen Preisen für ein breites Publikum anboten. Die Kunstwissenschaftlerin Gabi Ivan leitete die Galerie in der Wendezeit und zog mit ihr 2005 über die Straße in den Prater, bevor sie 2007 für Sanierungsarbeiten am Prater „vorübergehend den Betrieb“ einstellte.

In den O-Tönen der Reihenfolge nach: Rita Böttcher, Grischa Meyer, Gabi Ivan, Grischa Meyer

Galerie am Prater, Ausstellungseröffnung: Astrid Weichelt, da capo! 2002
© Gabi Ivan

Galerie am Prater, Ausstellungseröffnung: Astrid Weichelt, da capo! 2002 © Gabi Ivan

APPENDIX

Hanno Hochmuth gibt einen Überblick über die kulturgeschichtliche Bedeutung des Praters.

ABSPANN

Konzept, Buch, Regie und Produktion: Caroline Böttcher
Inhaltliche und dramaturgische Beratung: Julia Ohlendorf
Sounddesign und Arrangement: Sonja Harth
Tonaufnahme: Berthold Heiland, Christian Höfer, Caroline Böttcher
Tonschnitt: Caroline Böttcher und Sonja Harth
Sprecher:innen: Lisa Hrdina, Tilla Kratochwil und Steffen Scheumann
Chor: Kaufhallenchor

In den Interviewtönen sind zu hören:

Rita Böttcher ist seit 1983 Wahl-Prenzlauer-Bergerin und arbeitet als Grafikerin und Infografikerin für den Tagesspiegel.

Stephan Freiberg arbeitet im Fachbereich Kunst und Kultur des Bezirksamts Pankow im Projektmanagement. Im Prater war er jahrelang als Bühnentechniker tätig.

Annett Gröschner ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie lebt im Prenzlauer Berg und beschäftigt sich in vielen Publikationen mit Berlin-Geschichte.

Simone Hain ist eine deutsche Architektur- und Planungshistorikerin. In dem Projekt kommt sie als Expertin für die Kreiskulturhäuser der DDR zu Wort.

Hanno Hochmuth ist wissenschaftlicher Referent am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Er forscht zur Geschichte Berlins, zur Vergnügungskultur und zur Public History.

Gabi Ivan Kunstwissenschaftlerin und Kuratorin. Sie hat die Galerie am und später im Prater zwölf Jahre bis zu ihrer vorläufigen Schließung 2007 geleitet.

Grischa Meyer ist Grafiker und Autor und lebt im Prenzlauer Berg.

Aenne Quinoñes ist Dramaturgin, Kuratorin und Theaterleiterin. Seit 2012 gehört sie zum Leitungsteam des Berliner HAU. 2002–2011 arbeitete sie als Dramaturgin und Kuratorin an der Berliner Volksbühne.

Andreas Speichert begann 1987 als technischer Leiter im Prater zu arbeiten. Nach der Wende war er für die Volksbühne als Veranstaltungstechniker tätig und gründet die Firma PRATERSOUND.

Johanna Pohland ist freie Dokumentarfilmerin, Medienpädagogin und Social-Justice-Trainerin. Sie ist im Prenzlauer Berg groß geworden.

Caroline Böttcher

Media artist Caroline Böttcher develops and produces site-specific audio works. Using narratives, noises and sounds, she creates spaces that complement the visible world on an auditive layer. Memories and approaches to history(s) are central to her work. She is a member of the Audiowalk collective Soundmarker, which, among other things, presents the Audiowalk Award. She also leads urban exploration projects at schools in Berlin.

Wir danken dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und SchreibART e.V. (Archiv der Schreibenden ArbeiterInnen) sowie dem Archiv Pankow für die freundliche Unterstützung.

Eine Produktion der Prater Galerie (Lena Prents, Katharina von Hagenow, Julie Rüter und Tereza Havlíková), 2023.